Mit welcher Brille liest du die Bibel? Wenn du denn überhaupt die Bibel liest. Aber ein paar Bilder von biblischen Geschichten hast du bestimmt im Kopf: die Weihnachtsgeschichte, die Schöpfung, Adam und Eva, Jesus … Deine Bilder sind nicht neutral. Sie setzen sich zusammen aus deinem Erfahrungsschatz, deinem Umfeld und auch wie dir die Geschichten vermittelt wurden, z.B. im Religionsunterricht. Beides färbt deinen Blick auf die biblischen Geschichten, es ist kein neutraler Blick – das meine ich mit «deine Brille». Wichtig ist auch zu bedenken: die meisten von uns lesen diese Geschichten nicht in ihrer Originalsprache, dem Hebräischen und Griechischen. Wir lesen Übersetzungen. Und natürlich haben auch die Personen, die die Bibel übersetzt haben und heute übersetzen, ihre eigene Brille. Sie sind bei ihrer Arbeit beeinflusst von der Zeit, in der sie leben und den Bildern in ihrem und die Brillen auf ihrem Kopf.

Schaut man sich heute eine Bibelstelle in den zahlreichen Übersetzungen an, kann man grosse Unterschiede entdecken. Der Inhalt kann eine andere Bedeutung bekommen …, je nach Lesart, je nach Brille. Ein Wort ist vielleicht nicht eindeutig, es kann mehrere Bedeutungen haben und die Übersetzerin, der Übersetzer muss sich entscheiden.

Als Beispiel dient die Bibelstelle 1. Moses 2,25. Wir schauen sie uns in verschiedenen Übersetzungen an:

            Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.
            Lutherbibel, 2017

            Die beiden waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.
            Elberfelder Bibel, 2006

            Und obwohl die beiden nichts anhatten, der Mensch als Mann und seine Frau, schämten sie sich nicht.
            Bibel in gerechter Sprache, 2016

Wenn du diese drei Varianten miteinander vergleichst, fällt dir vielleicht auf: In der ersten Übersetzung in der Lutherbibel ist Adam «der Mensch» und Eva ist «seine Frau». Die Frau ist nicht auch Mensch, nein, sie ist einfach die Frau des Menschen. Und Adam als «Mensch» steht im Mittelpunkt. Dies widerspiegelt ein bestimmtes Weltbild: das androzentrische Weltbild. Das heisst, der Mann steht im Mittelpunkt. So wurde jahrhundertelang das Patriarchat begründet und verteidigt. Die Bibel wurde von Männern für Männer übersetzt und diente dem Machterhalt von Männern.

Anders sind die Übersetzer:innen der Elberfelder Bibel mit der Textstelle umgegangen. Sie sagen relativ neutral: «die beiden». In der Bibel in gerechter Sprache bekommt die Textstelle schliesslich eine ganz andere Bedeutung: Der Mann und seine Frau sind zusammen «Mensch».

Im Fernstudium,  geleitet von Monika Hungerbühler und Luzia Sutter Rehmann, sind wir uns also gleich zu Beginn unserer eigenen «Lesebrille» bewusst geworden und wir haben die Bibeltexte und ihre angebliche «Neutralität» kritisch hinterfragt. Beim Lesen verschiedener Bibelübersetzungen haben wir gelernt, auf die Unterschiede und verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zu achten.

Mit diesem Wissen haben wir uns weiteren Themen angenähert: dem Postkolonialismus, dem Antijudaismus. Wir haben mit einer feministischen Islamforscherin gearbeitet und über die Schöpfung in Zeiten der Klimakrise gesprochen.

Hast du dir jemals überlegt, dass Jesus kein weisser Mann war? Und kein Christ? Vielmehr war Jesus Person of Color (PoC) und Jude. Er trat als Rabbi in der Öffentlichkeit auf und hatte ein Gewand mit Schaufäden.

Ausgebildet mit der neuen Art, Bibel zu lesen, die Köpfe voller neuer Konzepte und Bilder, haben wir uns schliesslich nach eineinhalb Jahren Fernstudium mit einem Thema unserer Wahl beschäftigt. Wir haben eine Abschlussarbeit erarbeitet und am Abschlusstag, dem 4. November 2023, präsentiert. Es waren berührende Lebensgeschichten dabei, z.B. im Umgang mit Schmerz und Trauma, die Suche nach Gebet im Alltag, die Frage, warum wir uns Gott männlich vorstellen und welche Alternativen uns die Bibel dafür bietet. Wir haben gehört wie in der Bibel erwähnte Vögel klingen und was uns die Geschichte von Kain und Abel über toxische Männlichkeit lehrt. Es wurde ein grosses Rosenbeet für uns gestrickt und wir wurden dazu eingeladen, Gott nonbinär zu denken. Und noch vieles mehr …

Schliesslich fand der Lehrgang mit einer wohlklingenden und wohlschmeckenden Feier ihren Abschluss. Ganz im Sinne des Zitats, welches dem Fernstudium seinen Namen verlieh:

«Woman workers not only need bread, they need roses too!» Helen Todd

Blogautorin: Katja Mettler

 

Hier können Sie die Lernfrucht von Katja Mettler nachlesen: „G_ott im Zwischenraum“