Brücken bauen durch die Sinne.

Die Woche der Religionen 2019 im Zeichen von Mystik und Spiritualität

In der Ethnologie, also der Wissenschaft, welche die Menschen als soziale Wesen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten verstehen möchte, wird eine wichtige Unterscheidung gemacht: Ethnologinnen und Ethnologen auf Feldforschung unterscheiden zwischen dem, was Menschen ihnen erzählen, und dem, was die Menschen tatsächlich tun. Dies ist wichtig, um eine Kultur oder eine Religion kennenzulernen, denn manchmal tun wir Dinge, die wir nicht erklären können oder tun Dinge, ohne uns überhaupt bewusst zu sein, dass und wie wir sie tun. Haben Sie schon mal versucht, mit Worten zu erklären, wie man einen Ball wirft, ohne es mit Ihren Armen anzudeuten? Menschen, die Auto fahren lernen, erleben das auch. Die Fahrlehrerin kann zwar erklären, wie die Kupplung funktioniert, aber begreifen mit dem Kopf alleine reicht nicht: als Fahrschülerin muss man es selber ausprobieren und viel üben. Sobald man es verinnerlicht hat und praktisch im Schlaf kann, hat man häufig vergessen, wie man das Kuppeln jemand anderem erklären soll mit Worten.

Sinnliche Erinnerungen

Diese körperliche, schlecht durch Worte fassbare Seite des Lebens ist auch im Alltag der eigenen Religion und im Kennenlernen anderer Religionen wichtig. Ich kann mich zum Beispiel noch erinnern, dass unsere Religionslehrerin in der Primarschule Datteln mitgebracht hatte, da diese in einer Geschichte eine wichtige Rolle spielten. Es war das erste Mal, dass ich Datteln probierte, und ich kann mich noch heute an den süssen, ungewohnten Geschmack erinnern, den ich damals noch nicht mochte. Um welche Geschichte es ging, weiss ich hingegen schon lange nicht mehr.

Spiritualität als universell menschliche Suche nach mehr

Viele Religionen haben kulturelle und religiöse Elemente, welche die Menschen nicht kognitiv-intellektuell, sondern über die Sinne ansprechen. Über das Körperliche und Sinnliche wird eine ganz besondere Verbindung zum Transzendenten, zum Übernatürlichen hergestellt, die nicht ganz erklärbar ist: zum Beispiel durch Essen, Singen, Tanzen, Meditation oder zu meditativen Zuständen führende Formen des Betens. Je nach Definition und Religion werden solche Praktiken und Rituale als Teil der Spiritualität oder Mystik bezeichnet. Spiritualität wird in der Ethnologie als etwas universell Menschliches gesehen – Spiritualität als die menschliche Suche nach in Beziehung stehen zu etwas Übernatürlichem, etwas Höherem.

Spiritualität ohne Religion

Endo Anaconda, in Biel geborener Sänger der Mundartband Stiller Haas, sagte vor Kurzem in der SRF-Sendung Perspektiven, dass seine schlechten Erfahrungen in seiner Jugend mit der Kirche ihm die Religion regelrecht ausgetrieben haben. Seine Veranlagung zu Spiritualität aber, betonte er, ist geblieben. Er meinte auch: «Gott hat keine Religion, das ist Blödsinn. Menschen haben eine Religion» (SRF, 29.09.2019). Viele Menschen verstehen Religionen als kulturell und historisch spezifische Ausdrucksweisen und Organisationsformen von Glauben, denen allen die Spiritualität als generell menschliche Eigenschaft zu Grunde liegt. Viele Menschen wie Endo Anaconda können sich mit keiner Religion identifizieren, verstehen sich aber durchaus als spirituell.

Spiritualität als Brücke im interreligiösen Dialog?

Der Runde Tisch der Religionen Biel hat das Thema Spiritualität und Mystik ins Zentrum der diesjährigen Woche der Religionen gestellt. Am Montag, 4.11. kann man im Multimondo spirituelle Praktiken aus verschiedenen Weltanschauungen kennenlernen und mit den eigenen Sinnen eintauchen in die religiöse Vielfalt. Am Freitag, 8.11. wird der Film ‚Closer to God‘ im Wyttenbachhaus gezeigt, der Einblicke in den Sufismus, eine mystische Strömung des Islams, ermöglicht. Kann das Gespräch über Spiritualitätsformen und sogar praktisches Einüben in der Vielfalt der Spiritualitäten neue Formen von Begegnungen und Brücken zwischen Religionen, und zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen ermöglichen? Der Runde Tisch der Religionen vermutet und hofft, dass in Begegnungen rund um Spiritualität auf neuen Wegen die Gemeinsamkeiten zwischen Religionen entdeckt und selber erfahren werden können. Der Runde Tisch lädt Sie deshalb ein, über den Begriff Spiritualität nachzudenken, Mystik-Traditionen verschiedenener Religionen kennenzulernen, und selber spirituelle Praxen auszuprobieren.

Beobachten statt werten

 Es gibt in der Wissenschaft Tausende Definitionen von ‚Religion‘ und ungefähr gleichviele von ‚Spiritualität‘. Auch die Mitglieder am Runden Tisch Biel sind sich bisweilen nicht einig. Einerseits haben spirituelle und mystische Traditionen in vielen Religionen einen umstrittenen Stand, und andererseits gibt es ebenso problematische Tendenzen, Spiritualität als Gegensatz zu und etwas Besseres als Religion zu sehen. Als Koordinatorin des Runden Tischs der Religionen Biel möchte ich in diesen Debatten nicht Partei ergreifen und habe deswegen bewusst einen ethnologisch- beobachtenden und keinen wertenden Zugang zu Spiritualität für diese Einführung gewählt. Das Ziel ist, miteinander ins Gespräch zu kommen statt über richtig oder falsch, besser oder schlechter zu urteilen. Ich würde mich sehr freuen, Ihnen an den verschiedenen Veranstaltungen der diesjährigen Woche der Religionen begegnen zu dürfen, in den verschiedensten religiösen Räumen in der Stadt Biel, und diese Gespräche gemeinsam weiterzuführen.

Barbara Heer, Koordinatorin Runder Tisch der Religionen Biel und Studienleiterin beim Arbeitskreis für Zeitfragen

Das Thema des diesjährigen Kalenders der Religionen lautet «Der Körper – Spiegel des Heiligen».
Er kann bestellt werden unter kalender@iras-cotis.ch

Das Programm der Woche der Religionen finden Sie hier.