Heute stellen wir ihnen das Buch von Regula Portillo „Andersland“ vor. Der Roman stellt existenzielle Fragen zur Familie, was sie ausmacht und zusammenhält, wobei familiäre Tabus fatale Wirkungen haben können. Gleichzeitig ist das Buch ein Zwischenruf in der aktuellen Debatte über die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen. Die Buchbesprechung hat Judith Rehmann geschrieben.

Was ist zum Leben notwendig?

Diese Frage stellt sich Matilda, die Hauptfigur in Regula Portillos neustem Roman «Andersland». Sie sei mit allem ausgestattet, was zum Leben notwendig ist, schreibt ihr Vater in sein Notizbuch, dato 20. Juni 1980 – Matildas Geburtstag. Sie wächst in geradezu idyllischen Verhältnissen in der Schweiz auf: Obwohl ihr Vater alleinerziehend ist, findet er immer Zeit für sie. Auch ihr Onkel Tobias und dessen Lebenspartner kümmern sich liebevoll um Matilda. Mit ihnen geht sie in der Aare schwimmen, teilt sie Geheimnisse und backt Kuchen nach Eigenrezept.

Aber es lauert das Unglück: Als Matilda sechs Jahre alt ist, stirbt ihr Vater. Tobias und sein Partner setzen alles daran, dass Matilda bei ihnen bleiben darf. Doch ihnen wird das Sorgerecht verwehrt. Grund dafür ist ein rechtlicher Missstand in der Schweiz: Homosexuelle Paare dürfen nicht adoptieren. So etwas ist schlichtweg «undenkbar». Und dann wird Tobias’ schlimmste Befürchtung wahr: Matildas Mutter meldet sich. Sie will Matilda zu sich nach Mexiko holen.

Schlichte Worte statt Drama

Portillo schreibt in klaren Sätzen, die die Handlung in einem natürlichen Tempo vorantreiben. Knapp, aber präzis beschreibt sie die Gefühlslagen ihrer Figuren. Gekonnt verzichtet Portillo auf eine sprachliche Dramatisierung, auch als sich die Dinge zum Tragischen wenden: Mit schlichten Worten berichtet sie beispielsweise von Tobias’ Schmerz, wie er nach dem Verlust seines Bruders und seiner geliebten Matilda in Schluchzen ausbricht, sich zusammenrollt. Sein Leben wird zum Kampf. Gegen Depressionen, gegen Aids und schliesslich für die rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben in der Schweiz.

Und natürlich für Matilda. Mit der ihm aber der Kontakt verboten wird – von deren Mutter. Diese liebt Matilda sehr, möchte deren Vergangenheit jedoch lieber vergessen und begraben.

Erst zwanzig Jahre nach dem Umzug nach Mexiko findet Matilda das Notizbuch ihres Vaters wieder. Sie stellt die Zeilen Infrage, die er damals an ihrem Geburtstag geschrieben hatte. Ist sie wirklich mit allem ausgestattet, das zum Leben notwendig ist? Diese Frage beschäftigt sie, während ihr das Leben zunehmend entgleitet – und stellt letztlich aber auch die Brücke zu ihrer Vergangenheit her, über die sie wieder zurück in die Gegenwart findet.

Ein gelungenes Werk

Die Stärke von Portillos Roman liegt darin, dass sie die ethische Reflexion politischer Missstände und deren weitreichenden Konsequenzen im Privaten nüchtern in die Romanhandlung zu integrieren weiss. Ihr schlichter Erzählstil bewahrt sie davor, in einen moralistischen Ton zu verfallen. Bodenständig sind auch ihre Ausführungen zum Partnerschaftsgesetz, das 2004 in der Schweiz angenommen wurde und für das Tobias in «Andersland» kämpft. Das Partnerschaftsgesetz bedeutet nämlich einen Erfolg, jedoch mit bitterem Beigeschmack. Tobias’ eigentliches Ziel – und das von so vielen anderen schwulen und lesbischen Paaren – wird nicht erreicht: Elternrechte erhalten homosexuelle Partnerschaften damit nicht. Es will den Romanfiguren nicht in den Kopf, warum es an der Gesellschaft sein soll, grundsätzlich über eine so persönliche und individuelle Frage zu entscheiden.

«Andersland» lässt sich als ein gelungenes Werk bezeichnen. Regula Portillo erzählt darin eine realitätsnahe Geschichte darüber, was zum Leben notwendig ist. Das Buch spricht brisante Themen an – insbesondere im Hinblick auf die kommenden Verhandlungen über die Ehe für Alle in der Schweiz. So wünscht man sich die zeitgenössische Schweizer Literatur: bodenständig und alltagsnah; gesellschaftlich sowie politisch relevant.

Judith Rehmann