«Letztlich sind Wahrheiten immer umkämpft.»

Interview mit Bilgin Ayata, Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Universität Basel

Das Interview führte Barbara Heer, Dr. des. Ethnologie, Studienleiterin Ökumene & interkulturelle Friedensarbeit beim Arbeitskreis für Zeitfragen

 

Frau Bilgin Ayata, Sie forschen zu Themen wie Migration, Erinnerung, Konflikte und soziale Bewegungen. Welche Rolle spielt «Wahrheit» in Ihrer Forschung?

In der Akademie sind wir vorsichtig, von Wahrheit zu sprechen. Jedes Forschungsergebnis ist erstmals ein Ausdruck vom derzeitigen Wissensstand. Im Gegensatz zu anderen Institutionen wie z.B. den Religionen, haben wir in der Wissenschaft keine Absolutheitsansprüche.  Wissenschaft hat viel mehr die Rolle, Annahmen, die für Wahrheiten gehalten werden, zu hinterfragen.

Gerade in der öffentlichen Debatte um Migration haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler häufig die Rolle, Grundannahmen der Debatte, die empirisch nicht fundiert sind, in Frage zu stellen. Zum Beispiel die Annahme, dass grosse Menschenmassen von Afrika nach Europa kämen. Das ist empirisch nicht gestützt, der Grossteil der Migrationsbewegungen findet innerhalb des Südens statt. Deshalb müssten die Wissenschaften mehr konsultiert werden.

Wie würden Sie einem Student, einer Studentin erklären, was Ihr Zugang zu Wahrheit ist?

Viele wichtige Begriffe, die uns bewegen, sind im Singular, wie z.B. Wahrheit und Heimat, was bereits die Grundannahme beinhaltet, dass es nur eine Wahrheit, nur eine Heimat gibt. Wir wissen natürlich, dass es sehr wohl möglich ist, dass Heimat im Plural ist, dass es multiple Zugehörigkeitsformen gibt. Häufig ist es erst in der Auseinandersetzung, also in Situationen, wo andere Wahrheiten die eigene Wahrheit in Frage stellen, wo man überhaupt erst beginnt, den eigenen Blick als Wahrheit zu verteidigen.

In den Sozialwissenschaften werden heute Wahrheiten als Konstruktionen begriffen. Die Rechte in den USA sagt nun: «Die Postmoderne hat schon gesagt, dass es keine Wahrheit gibt, deshalb ist alles Fake News». Diesen Gedankensprung hat die Postmoderne nicht gemeint. Wenn wir sagen, dass es keine absolute Wahrheit gibt, rücken wir die Kritikfähigkeit der Menschen in den Fokus. Wir haben aktuell in den USA, in der Türkei und vielen anderen Ländern keine Krise der Wahrheit, sondern eher eine Krise der Kritikfähigkeit, in der die Fähigkeit der Demokratien, sich kritisieren zu lassen – ein wichtiger Aspekt einer gut funktionierenden Demokratie – auf dem Spiel steht. In einer solchen Phase werden die Sozialwissenschaften ungemein wichtig, da genau sie diese Kritik leisten können. Deshalb ist es auch symptomatisch für die Krise der Kritikfähigkeit, dass die Sozialwissenschaften von rechten Parteien angegriffen werden und Kürzungen drohen. Die stärkte Antwort, die man in dieser Zeit geben kann, ist genau jene Bereiche der Wissenschaft zu fördern, die für die Kritikfähigkeit unserer Gesellschaften da sind.

Sie erforschen unter anderem, wie gewisse Wahrheiten verschwiegen, verleugnet, ausgeblendet werden.  Was ist damit gemeint?

Nehmen wir das Beispiel vom armenischen Genozid in der Türkei. Seit vielen Jahren sind ganze Bibliotheken gefüllt worden mit Forschungen, die den Genozid aufarbeiteten. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden vom türkischen Staat aber geleugnet, vielmehr schuf er Gegenwahrheiten, indem er ganze Institute gründete und Historiker finanzierte, die eine Gegenthese vertraten, obwohl sie es besser wissen müssten.  Diese Gegenthese leugnete nicht, dass es Tote gegeben hat, aber sie besagt, dass es ein Aufstand der Armenier war, bei dem es auf beiden Seiten Verluste gab. Der türkische Staat leugnet bis heute, dass eine systematische Vernichtung stattfand und der Staat Verantwortung trug. Es ist ein paradigmatisches Beispiel dafür, wie Staaten darum kämpfen, bestimmte Aspekte ihrer Vergangenheit nicht aufzuarbeiten.

Gibt es Leugnung nur in Staaten mit schwachen demokratischen Strukturen wie die Türkei?

Nein. Im Gegensatz zur Türkei wird Deutschland als ein Land gesehen, dass seine Vergangenheit vorbildlich aufgearbeitet hat: den Holocaust. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes wurde zum Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Identität gemacht, die man, zumindest bis vor kurzem, nicht wegdenken konnte. Allerdings weigert sich Deutschland bis heute, die eigene Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und den Herero-Nama Genozid in Deutsch-Südwestafrika offiziell anzuerkennen. Ich habe die Regierungserklärungen der 1990er und 2000er Jahre genau studiert und war überrascht, dass die Argumentationen der Regierungen in gewissen Aspekten denen der Türkei sehr ähnlich sind. Leugnungspolitik und die Fabrizierung von Alternativnarrativen ist kein Einzelfall, sondern sie gehört zur Staatspolitik dazu. Das ist schwierig zu verdauen, gerade wenn es um das mittlerweile vergangenheitspolitisch vorbildliche Deutschland geht, aber letztlich sind Wahrheiten immer umkämpft. Ganz wichtig ist zu betonen, dass Leugnungsprozesse kein Resultat mangelnder Information oder fehlendem Wissen passieren. Staaten leugnen absichtsvoll, wenn unliebsame Wahrheiten das Selbstverständnis der Nation in Frage stellen, weil es die Narrative, die die kollektive Identität der Gesellschaft konstituieren, stört oder gar zerstört.

Als Politikwissenschaftlerin sind Sie sicher eine scharfe Beobachterin dessen, was in der Schweiz passiert. Gibt es auch in der Schweiz Praktiken der Leugnung?

Ich forsche aktuell nicht dazu, verweise aber gerne auf das Buch von Patricia Purtschert zur postkolonialen Schweiz (2014, Transcript Verlag). Auch in der Schweiz gibt es eine Nicht-Auseinandersetzung mit den kolonialen Verwicklungen der Schweiz, die aber wichtig wäre, nicht zuletzt, weil es eine andere Auseinandersetzung mit Rassismus ermöglicht.

Ein weiterer Punkt, der mich fasziniert, ist die Tatsache, dass in der Schweiz so viel über den Islam debattiert wird, wobei die muslimische Bevölkerung einen kleinen Prozentsatz von weniger als fünf Prozent ausmacht und die Mehrheit der Muslime gar nicht religiös organisiert ist.  Da stellt sich für mich die Frage: Worüber wird nicht geredet, wenn über Islam debattiert wird? Worum geht es eigentlich in dieser Debatte?

Ich denke, es geht hier um die Verteidigung von nationalen Narrativen: in der Frage nach dem Fremden wird meist das Eigene verhandelt. Ich finde es wichtig zu betonen, dass es per se nicht negativ ist, über den Islam zu debattieren, sondern möchte auf die Verlagerung der  Debatte verweisen: es geht vielmehr darum , was und wer die Schweiz ist, und über welche Mythen des Zusammenlebens sie sich definiert. Ich möchte aber auch betonen, dass diese polarisierenden Debatten sehr schmerzhaft sein können, gerade für Menschen, deren Zugehörigkeit in Frage gestellt wird.

Durch die Migration sind politische Konfliktlinien aus der Türkei, so z.B. die türkisch-kurdischen Konflikte, auch in der Schweiz präsent. Mitarbeitende und Freiwillige von Kirchgemeinden werden mit der Frage konfrontiert, mit welchen Vereinen oder Personen aus der türkischen Migrationsgemeinschaft sie zusammenarbeiten in interreligiösen oder interkulturellen Projekten. Wie soll man damit umgehen?

Es gibt keine Linearität in der Migration, man verlässt also nicht einfach einen Ort, lässt alles hinter sich und wohnt jetzt in einem anderen Land, als gäbe es die eigene Vergangenheit nicht mehr. Wir leben in einem globalen, digitalen Zeitalter, und das bedeutet auch, dass Konflikte zunehmend entgrenzt sind, Migration ist ein transnationales Phänomen. Wir können es uns nicht leisten, nebeneinander oder miteinander zu leben, ohne uns mit der Geschichte und der Politik in den Herkunftsländern und den Realitäten der Menschen, die hier in der Diaspora leben, auseinandersetzen. Migration verändert die Gesellschaft. Letztlich muss man Migrantinnen und Migranten genau so komplex begreifen, wie man sich selber als komplex sieht.