Gedanken zu meinem verdrängten, rassistischen Denken

Weshalb erschrecke ich, wenn ein dunkelhäutiger Arzt, der perfekt schweizerdeutsch spricht, mir gegenübersitzt? Weshalb weiche ich einer lachenden Gruppe Schwarzer aus? Ich weiss nun, dass ich mit der Vorstellung aufgewachsen bin, dass wir Weissen besser seien, zivilisierter, wissender, … Ich weiss nun, wie gefährlich diese Prägungen sind, wie sie zerstörend wirken, Völker trennen, Hass schüren, … Ich schäme mich und realisiere, dass unsere ganze Gesellschaft diese Überheblichkeit der Weissen in sich trägt.

Ich habe Jahrgang 1950, gehöre also zur älteren Generation.

Schon immer war Afrika für mich ein Wort der Verheissungen. Es versprach Abenteuer, Exotik, Urwald, Inbegriff des Kontrastes zu meinem bürgerlichen Dasein in Zürich. Das Wort «Lambarene» schmolz auf meiner Zunge wie Schokolade und Albert Schweitzer war ein Held.

Mein Onkel, Bruder meiner Mutter, hatte es geschafft. Er lebte mit seiner Familie irgendwo in Afrika als Missionar, seine Frau war meine Patin. An Weihnachten lag oft ein Päcklein unter dem Tannenbaum, dekoriert mit exotischen Briefmarken, darin ein Kettchen aus Elfenbeinblumen, ein kleiner Elefant aus Teakholz oder sonst eine merkwürdig duftende Kleinigkeit. In den Sommerferien spielte ich oft mit den Cousins und Cousinen, die bei meiner Grossmutter ihre Ferien verbrachten. Sie nannte die Kinder «Afrikanerli». Ich beneidete sie wegen ihren Erfahrungen. Sie waren wild und unbekümmert, ich dagegen scheu und brav.

Auch meine Grosstante kam als Witfrau eines Missionars aus Mozambique zurück und half meiner gebrechlich werdenden Grossmutter im Haushalt. Sie erzählte manchmal spannende Geschichten oder sprach einige Wörter in einer afrikanischen Sprache mit merkwürdigen Schnalzlauten.

Wir spielten mit Kasperlipuppen, mit denen mein Grossvater wahrscheinlich auch schon gespielt hatte. Es gab weder König noch Prinzessin, aber wir erfanden Geschichten mit dem Engländer, der Dame mit ihrer Zofe, dem Wirt, dem Kasper, dem Jud, dem N…. und dem Teufel, der natürlich auch schwarz war. Niemand stellte dies in Frage.

Von meiner englischen Grossmutter väterlicherseits wusste ich, dass ihr Vater eine Kaffeeplantage in Ghana und einen Kolonialwarenladen in Südengland betrieben hatte. Auch da gab es Verbindungen zu Afrika. Der Duft frisch angebrühten Kaffees lockte in die Ferne. Die Familie wohnte anscheinend in einem herrschaftlichen Anwesen in Südengland.

Auch unsere Sonntagschullehrerin, eine gütige, kleine, stets schwarz gekleidete Frau erzählte uns spannende, fremdartige Geschichten aus einem fernen Land. Diese Erzählungen endeten immer in einer Klärung: Auf der einen Seite waren die Bösen, auf der anderen Seite, die Guten. Heiden oder Christen, schwarz oder weiss. Oder Schwarze und Weisse?

Wenn ich dann mein Zwanzigrappenstück ins Kässeli warf, und der arme N…. dankend nickte, so fühlte ich mich gut.

Sogar Trudi Gerster, unsere Geschichtenerzählerin sang auf einer Schallplatte: »Ich arme Wumbo Wum, ich bi so schüli dumm, ich arme, ich arme, ich arme Wumbo Wum!», weil er alles verkehrt machte.

Es gab das Lied „10 kleine N….lein, …», «Tim und Struppi im Kongo», usw. Man sprach sogar von den unzivilisierten oder primitiven Völkern. Ihnen musste geholfen werden. Es folgten andere Geschichten. Meine Mutter las uns «Onkel Tom’s Hütte» vor. Beim Lesen von «Vom Winde verweht» versank ich in die Rolle von Scarlett O’Hara. Sklavenhandel! Die Schwarzen als Opfer, die Weissen als Täter, eine erschreckende Erkenntnis.

Der afrikanische Kontinent befreite sich mehr und mehr von der kolonialen Herrschaft. Ich begann mich politisch zu interessieren. Weshalb waren die Landesgrenzen in Afrika mit dem Lineal gezogen worden? Die Folgen der Kolonisation erschütterten mich zutiefst. Als Schweizerin fühlte ich mich aber nicht direkt betroffen, war eher Zuschauerin. Von den Verstrickungen unseres Landes in den Sklavenhandel wusste ich nichts. 1967 brach der Biafra-Krieg aus. Wir hatten keinen Fernseher, aber die Zeitungen brachten Bilder von Kindern mit geschwollenen Hungerbäuchen, dürren Beinchen und traurigen Gesichtern mit grossen, angsterfüllten Augen. 1968 wurde Martin Luther King ermordet. «I have a dream!», der Traum nach Frieden und Gerechtigkeit war auch mein Traum.

Entwicklungshilfe, ja, das war es! Wir mussten uns einsetzen für die Drittweltländer, die unterentwickelten Staaten, die Ärmsten der Armen. Dass unsere Wirtschaft und Politik aber auch viele eigene Interessen verfolgten, realisierte ich erst am Ende der Apartheid in Südafrika.

Unterdessen hatte ich 1979 einen dreimonatigen Aufenthalt in Kamerun gemacht. Ich durfte bei einer Schweizer Arztfamilie in einem Dorf mit Spital und Leprastation mitten im Urwald leben. In den ersten Wochen meinte ich, als Europäerin für alle Probleme eine Lösung bereit zu haben, merkte aber bald, dass ich eigentlich keine Ahnung hatte. So setzte ich mich zu den Schwarzen. Ich hörte ihnen zu, machte mit bei ihren Ritualen, tanzte und lachte mit ihnen. Ihre Gastfreundschaft, Lebensfreude und Gelassenheit gingen mir zu Herzen. Ihr Gemeinschaftsgefühl und ihre Hilfsbereitschaft überraschten mich immer wieder. Nein, meine Hilfe brauchten sie nicht. Auf dem Rückflug versprach ich mir, irgendwann zurück zu kehren. Noch dreimal besuchte ich die Menschen in Westkamerun.

Auf einer Begegnungsreise, organisiert von Mission 21 im Jahre 2011, lernte ich den Unterschied zwischen Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit kennen. Jetzt wurden die Schwarzen als gleichwertige Partner angesehen. Die Vertreterinnen von Mission 21 unterstützten Projekte der Einheimischen, mischten sich aber nicht in Entscheidungen mit ein. Besonders beeindruckte mich die Stärke und Würde der Frauen. Sie übernahmen mutig und selbstbewusst verantwortungsvolle Aufgaben.

Vier Jahre später verbrachte ich einige Wochen im theologischen Seminar von Kumba, Westkamerun. Ein paar Wochen vor dem Abflug erhielt ich vom Leiter des Seminars den Auftrag, Workshops mit den Frauen der Studenten zu organisieren und ihnen das Stricken beizubringen. Und da stolperte ich wieder über meine eigene Besserwisserei: Weshalb sollten die Frauen das Stricken erlernen, wo es doch in dieser Gegend derart schwülheiss ist? Die Antwort auf meine Frage war: Diese Frauen wissen, was sie lernen möchten. Du weißt es nicht. So startete ich mit den Workshops. Bereits am zweiten Tag übernahmen die Teilnehmerinnen die Leitung und verschiedene Aufgaben, und wir hatten eine herrliche Zeit zusammen. Die Hautfarbe spielte keine Rolle, wir waren alle Lernende.

Meine letzte Reise 2018 war wiederum eine Begegnungsreise und führte mich an die bekannten Orte und zu Freundinnen und Freunden. Die Freude war gross, wieder in Kamerun zu sein. In der Zwischenzeit war jedoch der Bürgerkrieg ausgebrochen, die Menschen waren voller Angst, die Schulen geschlossen, Strassenbarrikaden überall, Flüchtlinge unterwegs. Und doch war diese Herzlichkeit und innere Stärke der Menschen spürbar. Die Bevölkerung in Kamerun wird allein gelassen. Wie ist es zu diesem Bürgerkrieg gekommen? Darüber berichtet keine Zeitung. Kamerun ist weit weg, nicht interessant. Wer sich informiert, stellt fest, dass es eine Folge der Kolonisation ist.

Nun bin ich sensibilisiert über meinen verdrängten Rassismus.

In den letzten Jahrzehnten hat sich zum Glück vieles gebessert. Rassendiskriminierungen geschehen aber immer noch tagtäglich. Unser Umgang mit Flüchtlingen ist weltweit menschenrechtsverletzend. Um aus diesen verheerenden Prägungen, die aus der Zeit der Kolonisation stammen, als Gesellschaft heraus zu finden, braucht es die aktuellen Diskussionen um Rassismus. Es gibt keine Rassen, wir sind Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben. Punkt.

Es braucht aber noch etwas ganz anderes. Die Politik ist gefragt.

  1. Wir müssen die Zeit der Kolonisation bis heute aufarbeiten und unsere Fehler anerkennen. Die Schweiz war beteiligt, auch wenn sie keine Kolonien ihr Eigen nannte. Und noch heute profitiert die Schweiz vom Handel mit afrikanischen und anderen Staaten. Ähnlich dem Bergier-Bericht über die Rolle der Schweiz während des zweiten Weltkriegs, müssen die Machenschaften im Zusammenhang mit der Kolonisation bis zur heutigen Aussen- und Wirtschaftspolitik historisch durchleuchtet werden.
  1. Dazu gehört meines Erachtens eine ehrliche Entschuldigung (wie bei der Aufarbeitung des Verdingwesens), Schuldenerlasse und Wiedergutmachungszahlungen.
  2. Die Kunstobjekte in den Museen müssen zurückgegeben oder entschädigt werden. Es ist Raubkunst.
  1. Die Migrationspolitik muss die Würde jedes Menschen ins Zentrum rücken.
  1. Als ersten Schritt müssen wir ein beherztes Ja zur Konzernverantwortungsinitiative in die Urne legen.

Erst dann können wir die Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe würdig gestalten. Die Schweizer Politik kann voran gehen, andere Länder müssen folgen, dies als Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit. Sind diese Forderungen wirklich nur Utopien? Hören wir doch auf, als Besserwisser auf andere hinunter zu schauen und sie auszubeuten. Wir alle sind Weltenbürger und tragen Verantwortung für unsere eine Welt.

Murielle Pfäffli-Patry, Absolventin des Evangelischen Theologiekurses beim Arbeitskreis für Zeitfragen