Dass Jesus über das Wasser gelaufen sei, wird weitherum bezweifelt. Das kann doch niemand, nicht einmal Jesus! Ein amerikanischer Wissenschaftler trieb seine Kritik soweit, dass er nachweisen will, Jesus sei über Eisschollen gelaufen, da in der fraglichen Zeit der See Genezareth manchmal fast zugefroren sei… (faz.net, 6-4-2006). Aber auch das dürfte nicht ungefährlich gewesen sein, wie wir ja an dem sinkenden Petrus sehen (Mt 14,22-36).
Inzwischen lese ich diese Geschichte anders. Ich sehe das Mittelmeer vor mir, statt den See von Genezareth. Hunderttausende drängen sich in untaugliche Boote, sie können nicht schwimmen, sie haben keine Navigationsgeräte und vor allem: Sie haben keine Wahl. Manchmal kommen ihnen Menschen entgegen, Rettungsschiffe nehmen sie auf.
Den Fluchtrouten nachzugehen, zu suchen, wer verloren geht, fordert heraus. Die Politik der EU versagt. Doch viele zivile Helfer*innen und Organisationen schliessen sich zusammen und bieten dem politischen Versagen die Stirn. Sie folgen dem Ruf nach Menschlichkeit.
Es gibt aber auch gute Nachrichten:
1) Das Rettungsschiff Iuventa10 kam letztes Jahr in die Schlagzeilen, als ihm verboten wurde, die italienischen Häfen anzufahren. Die junge Kaptänin Pia Klemp entschloss sich nach langem Warten dennoch dazu, um den geretteten Menschen Zugang zu medizinischer Hilfe, sauberem Wasser und festen Boden unter den Füssen zu ermöglichen. Sie wurde mit ihrer Crew als Schlepperin angeklagt, die Iuventa10 wurde eingezogen. Sie warten auf einen Gerichtsprozess. Am 11.2.20 haben sie den Amnesty Menschenrechtspreis 2020 erhalten: “Wer Menschen aus Seenot rettet, wer Hungernden Essen gibt, wer Menschen vor dem Tod bewahrt, darf dafür nicht verfolgt werden.“Menschenrechtsverteidiger*innen werden weltweit bedroht, angegriffen und kriminalisiert. In Europa ergreifen die Regierungen repressive Massnahmen gegen Menschen auf der Flucht und Aktivist*innen. Für Amnesty International sind die Iuventa10 Vorbilder für ein Engagement, das unterstützt und geschützt und nicht kriminalisiert werden muss.
2) Alle drei Jahre verleiht die Paul-Grüninger-Stiftung (Schweiz) einen Preis dotiert mit 50’000 Franken an Menschen, die sich “ durch besondere Menschlichkeit und besonderen Mut auszeichnen“. Dass Helferinnen und Helfer kriminalisiert werden, kommt nicht nur in den europäischen Nachbarländern vor, wie die Paul-Grüninger-Stiftung schreibt.
Der Hauptpreis der Paul-Grüninger-Stiftung ging ebenfalls an die Crew des deutschen Rettungsschiffes Iuventa10. Seit 2016 barg sie mehr als 14‘000 Menschen aus dem Mittelmeer. „Die jungen Crew-Mitglieder wirken damit dem humanitären Versagen der europäischen Politik entgegen.“ 2017 wurde das Schiff von der italienischen Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Gegen zehn Mitglieder laufen nun Verfahren wegen «Beihilfe zur illegalen Einwanderung»; es drohen bis zu 15 Jahre Haft. Die Besatzung weist die Vorwürfe zurück und beruft sich auf internationales Seerecht. Der Betrag soll laut Stiftung einen Beitrag an die Verteidigung leisten. Allein in erster Instanz rechnen die Angeklagten mit Kosten von 500’000 Euro.
3) United4rescue: Ab April 2020 wird ein von der evangelischen Kirche Deutschland (EKD) gesponsertes Rettungsschiff auf dem Mittelmeer fahren. Das ehemalige Forschungsschiff „Poseidon“ heißt jetzt schlicht „Sea-Watch 4“ – mit dem Zusatz „powered by United4Rescue”. Den kirchlichen Segen erhielt das neue Schiff vor wenigen Tagen vom EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm. Mit dem Flüchtlingsschiff werde die Flüchtlingspolitik der EU nicht gelöst, sagte der bayerische Landesbischof. Es sei eine akute Nothilfe. „Man kann Menschen nicht ertrinken lassen. Punkt!“ Bleibende Aufgabe von Kirche und Diakonie sei es, Menschen in ihren afrikanischen Heimatländern eine Perspektive zu erarbeiten.Für viele Menschen sei die „Sea-Watch 4“ ein „Schiff ihres Herzens“, sagte Bedford-Strohm. Die Unterstützung für das Projekt komme aus der Mitte der Gesellschaft. Er habe bei der Vorstellung des Projekts mit harter Kritik und einem Shit-Storm in den sozialen Medien gerechnet. Er sei völlig überrascht, denn stattdessen habe er einen „Love-Storm“ erlebt. Es tut gut, die vielen Bündnispartner dieses Schiffs aufgezählt zu sehen.
Und die Schweiz?
Und wer sich dann leise fragt, ob so etwas auch in der Schweiz möglich wäre: Die reformierte Kirche der Schweiz (EKS) unterstützt private Seenotrettung im Mittelmeer. So heisst es am 30. Januar 2020: Der Rat der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) schaltet sich in die europäische Flüchtlingspolitik ein und unterstützt die private Seenotrettung im Mittelmeer «United4Rescue». Dies, nachdem die europäischen Missionen praktisch zum Erliegen gekommen seien, wie es in der Mitteilung vom 30. Januar heisst. Die Tatsache, dass Menschen vor unseren Augen den Tod finden, sei nicht akzeptabel, schreibt EKS-Ratspräsident Gottfried Locher: „Vor den Toren Europas ertrinken Menschen auf der Suche nach einer friedvollen Zukunft. Täglich. Helfen wir mit, Leben zu retten – in Gottes Namen.“
Gemäss dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind von den im vergangenen Jahr insgesamt über 90‘000 Bootsflüchtlingen 1300 Menschen ums Leben gekommen. Siehe: www.ref.ch vom 30.1.20
Die Paul-Grüninger-Stiftung vergibt zusätzlich einen Anerkennungspreis in Höhe von 10’000 Franken an Anni Lanz aus Basel. Auch sie kann das Geld für Gerichtskosten gut gebrauchen. Die «älteste Schlepperin der Schweiz», wie das SRF titelte, ist auch die bekannteste. Im vergangenen Dezember musste sich die 72-Jährige vor dem Bezirksgericht Brig verantworten, das ihr eine Busse von 800 Franken und Verfahrenskosten von 1400 auferlegte. Vor einem Jahr half Anni Lanz einem Flüchtling in Gondo über die Schweizer Grenze, nachdem die Behörden den psychisch angeschlagenen Mann zuvor nach Italien ausgeschafft hatten. Das Gericht verurteilte Lanz wegen Widerhandlung gegen das Ausländergesetz. Die Basler Menschenrechtsaktivistin hat das Urteil angefochten.
Dass der Iuventa-Crew für ihre Arbeit der Paul-Grüninger-Preis verliehen wird, diese Nachricht hat es bis in den deutschen Bundestag geschafft. Die Grünen nehmen die Auszeichnung zum Anlass für einen Aufruf an die Regierung. Sie soll sich dafür einsetzen, „dass die politisch motivierte Kriminalisierung ziviler Seenotrettung unverzüglich endet.“
Ähnlich tönt es in der gestrigen Mitteilung der SP Schweiz. In einer Motion fordert Nationalrätin Mattea Meyer, dass sich die Schweiz am Aufbau eines europäisch organisierten zivilen Seenot-Rettungssystems beteilige. Sie erhält Unterstützung aus allen Parteien, mit Ausnahme der SVP.
Luzia Sutter Rehmann