Barbara Heer, Studienleiterin vom Arbeitskreis für Zeitfragen, untersucht in ihrem Buch «Cities of Entanglements» (2019), wie Kolonialismus und Apartheid das Zusammenleben zwischen Arm und Reich, Schwarz und Weiss in Johannesburg und Maputo prägen. Durch hohe Mauern und Segregation möchten städtische Eliten weltweit Armut und Ungleichheit unsichtbar machen. Die Tatsache, dass scheinbar segregierte Lebenswelten aufs Engste voneinander abhängig sind, wird von weissen Eliten und der Geschichtsschreibung häufig geleugnet. Im September 2020 war das Buch als Fotoausstellung präsent in der Bieler Stadtkirche. In diesem Blogbeitrag begegnen Sie den Fotos digital.

Wie leben Menschen in Städten zusammen, deren Alltag und deren soziale Position von Ungleichheiten und Differenz geprägt sind? Diese vergleichende Ethnographie zweier afrikanischer Städte, Maputo und Johannesburg, entwickelt eine neue Erzählung über das soziale Leben in Städten, die oft als scharf geteilt beschrieben werden. Ausgehend von auf den ersten Blick segregierten, und doch verwobenen Alltagswelten in einem Township und einem Vorort in Johannesburg sowie in einem Bairro und einem Eliteviertel in Maputo, beschreibt das Buch Fallstudien zu den Beziehungen zwischen Hausangestellten und ihren Arbeitgebenden, von gescheiterten Versuchen städtischer Eliten, ihre Stadtviertel abzuschotten, und von  sozialen Verwebungen (entanglements), die in religiösen Räumen und in Einkaufszentren entstehen. Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur Stadtethnologie und zu den vergleichenden Urban Studies.

Masjid Ioonus Polana Caniço Maputo

Masjid Ioonus Polana Caniço Maputo (Foto: Fernando Tivane)

Religion und Spiritualität sind wichtige, von der Stadtforschung häufig vernachlässigte Aspekte der Urbanität. Religiöse Räume – Moscheen, Kirchen – nehmen in von Ungleichheit geprägten Gesellschaften eine wichtige Rolle ein. Hier entstehen Formen der Sozialität über Klassengrenzen und ethnische Grenzen hinweg. Religiöse Praktiken und Räume beeinflussen die Art und Weise, wie Stadtbewohner die Stadt nutzen und erleben. In Maputo und in Johannesburg stellt religiös eingebettete Wohltätigkeit eine wichtige Form der Verflechtung dar. Die paternalistischen Beziehungen, die durch das Geben und Empfangen von Almosen entstehen, können auseinanderdriftende soziale Schichten stärker aneinanderbinden. Das Christentum und der Islam verfügen über Gleichheitsdiskurse, die von Stadtbewohnenden genutzt werden, um moralische Ansprüche an die Beziehungen über Milieugrenzen hinweg zu postulieren. Noch heute sind alltägliche Interaktionen von Erinnerungen an die Rassentrennung der Kolonialzeit und der Apartheid geprägt. Koloniale Muster und ungleiche Ressourcenverteilung werden insbesondere in Momenten der Konkurrenz und des Konflikts relevant.

Domestic Workers in Linbro Park (Foto: Luversan Gerard)

Domestic Workers in Linbro Park (Foto: Luversan Gerard)

Im Zentrum des Buches stehen die intimen Verflechtungen zwischen Hausangestellten und ihren wohlhabenden Arbeitgebenden im ehemals weissen Vorort Linbro Park, Johannesburg. Die Beziehung zwischen Hausangestellten und Arbeitgebenden stellt eine gewohnheitsmässige, alltägliche und doch unsichtbare  Verflechtung dar, die Lebenswelten und Räume auf intime und dauerhafte Weise miteinander verbindet. Im Post-Apartheid-Linbro-Park ähneln diese Beziehungen immer noch Beziehungen von Herrschaft und Widerstand (Scott 1990). Allerdings spielt Zuneigung in diesen Beziehungen eine wichtige Rolle und Ambivalenzen, Spannungen und Widersprüche kennzeichnen diese intimen Verstrickungen. Wenn über Städte gesprochen und theoretisiert wird, müssen diese Begegnungen in privaten Räumen verstärkt einbezogen werden.

Mauer in Polana Caniço (Foto: Barbara Heer)

Mauer in Polana Caniço (Foto: Barbara Heer)

Mauern sind in vielen Städten der Welt anzutreffen. In Gesellschaften mit kolonialer Vergangenheit werden Mauern oft von mächtigen Gruppen errichtet, um sich zu schützen und weniger mächtige Gruppen auszuschliessen, die sie als  „Andere“ konstruieren (Spivak 1985). Trotz trennender Mauern sind die Lebenswelten miteinander verwoben. Kolonialismus und Apartheid zwangen Stadtbewohnende und die Wissenschaft, Städte wie Johannesburg und Maputo in abstrakten, homogenisierenden und vereinfachenden Differenzkategorien wie Schwarz und Weiss, Europäer und Einheimische, Cimento und Caniço, Vorort und Township zu denken.

Solche kolonialen Binaritäten, die mit staatlicher Macht durchgesetzt und durch die koloniale Gesetzgebung in den Raum eingeschrieben wurden, sind heute weiterhin mächtig. Die Binaritäten machen blind für die Verflechtungen, die an den Grenzen, den Überschneidungen, den Orten der Begegnung entstehen. Dabei sind Verflechtungen genau so konstitutiv für Städte wie Mauern. Dass Verflechtungen häufig unsichtbar bleiben und unsichtbar gemacht werden, hat nicht zuletzt mit Macht und Ideologie zu tun. Mächtige Akteure wie städtische Eliten können sich weigern, Verflechtungen zu sehen und anzuerkennen. Denn mit der Anerkennung der Verbundenheit kommt gegenseitige Verantwortung.

Das Buch „Cities of Entanglements“ (2019, Transcript Verlag) kann auf der Seite des Verlags bestellt oder als PDF heruntergeladen werden.