Die Evangelien als Nachkriegsliteratur – Studientag mit Luzia Sutter Rehmann am 1.2.25
Lange Zeit verband ich die Erzählungen von Jesus im Neuen Testament mit den Bildern einer lieblichen Landschaft. Etwa die Erzählung der syrophönizischen Frau, die Jesus um Heilung ihrer Tochter bittet, die von einem bösen Geist geplagt wurde. Sie spielt am See Genesareth – eine liebliche Gegend.
Luzia Sutter Rehmann nahm uns am Studientag ‚Wege des Friedens – die Evangelien als Nachkriegsliteratur‘ mit auf eine viel differenziertere Sichtweise. Ein neuer Blick auf das Umfeld der bestens bekannten Texte öffnete sich.
Sie zeigte auf, wie in dieser Gegend zur Zeit Jesu und in der Folgezeit massive Konflikte zwischen den Römern und dem jüdischen Volk tobten. Der Höhepunkt war um 70 n. Christus, als der Tempel in Jerusalem zerstört wurde. Massive Gewalt terrorisierte die Menschen. Sie mussten fliehen oder wurden umgebracht. Gerade am See Genesareth war die Zerstörung total. Bilder vom heutigen Gaza tauchten vor dem inneren Auge auf. Die Gewalt prägte die Menschen.
Die Evangelientexte wurden genau in dieser Zeit geschrieben. Luzia Sutter Rehmann zeigte auf, wie diese Texte eine neue Kraft entfalten, wenn sie auf dem Hintergrund des grossen Leids der Bevölkerung gelesen werden.
Das schaffte ein neues und überraschendes Verständnis nicht nur der alten Texte, sondern auch einen neuen Zugang zur Person Jesu, dem Juden, der inmitten dieser leidvollen Zeit mit der Botschaft des Reiches Gottes eine neue Hoffnung und einen neuen Anfang setzte.
Für die Teilnehmenden wurde deutlich, dass die Texte der Evangelien – wenn sie als Nachkriegs- oder Traumaliteratur verstanden werden – uns darin unterstützen, einen Weg zu traumatisierten Menschen zu finden; dass sie helfen, Sprache zu finden, wo sie uns fehlt.
Der Studientag weckte die Lust auf ein ‘Mehr’ an gemeinsamer Lektüre der biblischen Texte.
Elsbeth Caspar